„Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ heißt es in Bertolt Brechts zwischen 1934 und 1938 entstandenem Gedicht An die Nachgeborenen. Was zur Zeit des Gedichts – in Deutschland herrschte der Nationalsozialismus – nur allzu verständlich ist, erscheint uns heute eher wie ein Widerspruch. Über was anderes sollten wir in Zeiten von Klimakrise, Naturkatastrophen, Dürre und Waldsterben reden als über Bäume?
Das gilt auch für die Schule, in der in die Interpretation von Naturgedichten im Deutschunterricht bei ökologisch sensibilisierten jungen Menschen an sich auf eine positive Resonanz stoßen müsste. In der dreiteiligen Online-Lehrkräftefortbildung „Naturlyrik“ im März 2023 für Lehrkräfte an Gymnasien wurde durch den Referenten Prof. Dr. Peter Philipp Riedl (Universität Freiburg) die Geschichte der deutschen Naturlyrik vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart in ihren zentralen Entwicklungsschritten nachgezeichnet. Einschlägige Transformationsprozesse im lyrisch gestalteten Verhältnis von Mensch und Natur haben wir durch die gemeinsame Lektüre und Interpretation einzelner prominenter Gedichte konkretisiert und veranschaulicht und dabei auch, ausgehend von entsprechenden Textbefunden, ökologische Grundfragen und Möglichkeiten ihrer schulischen Vermittlung erörtert.
Ecopoetry und Ecocriticism
In der ersten Sitzung wurden zunächst neuere und neueste wissenschaftliche Ansätze wie Ecopoetry und Ecocriticism vorgestellt und deren Wert für eine kritische Auseinandersetzung mit Traditionen der Naturlyrik diskutiert. Als Einstieg in die inhaltliche Beschäftigung mit den Texten selbst wurden drei Gedichte aus unterschiedlichen Zeiten vergleichend betrachtet: Andreas Gryphius’ Einsambkeit, Georg Trakls Am Moor (3. Fassung) sowie Jürgen Beckers Natur-Gedicht. Eine vergleichbare Bildlichkeit lenkt den Blick umso stärker auf die unterschiedlichen Naturwahrnehmungen, die jeweils verschiedene Welthaltungen implizieren.
Im Medium der Naturwahrnehmung reflektieren Naturgedichte das Verhältnis des Ichs zu Welt und Gesellschaft, Kultur und Wissen, Religion und Kunst, Ökonomie und Ökologie. Die Analyse von Naturgedichten seit dem 17. Jahrhundert berücksichtigt daher Formen kontemplativer Naturbetrachtung ebenso wie die moderne Auseinandersetzung mit Naturzerstörung.
Inhaltlich stand in der ersten Sitzung das 18. Jahrhundert im Mittelpunkt. Hier wurden Beispiele physikotheologischer Naturlyrik (Barthold Heinrich Brockes) sowie die zunehmende Verwissenschaftlichung der Naturbetrachtung (Albrecht von Haller) näher besprochen. In diesem Zusammenhang wurde auch der wachsenden Bedeutung der Ästhetik des Erhabenen für die Naturwahrnehmung Rechnung getragen. Entsprechende Handouts haben zentrale Positionen der Ästhetik des Erhabenen zusammengestellt und deren Relevanz für die Gedichtinterpretationen verdeutlicht.
Klopstock und Goethe – Von der Subjektivierung zur Objektivierung der Naturwahrnehmung
In der zweiten Sitzung wurden Gedichte Friedrich Gottlieb Klopstocks und Johann Wolfgang Goethes ausführlich interpretiert und die literarische Entwicklung von empfindsamer Naturwahrnehmung im Zeichen von Freude und Freundschaft zu einer radikalen Subjektivierung zur Zeit des Sturm und Drang mit einer engen Verschränkung von Natur- und Liebeslyrik nachgezeichnet.
In diesem Zusammenhang wurde auch ein wissenschaftlich angemessener Begriff von Erlebnislyrik jenseits biographischer Zuschreibungen vorgestellt – auch dies wieder mit Hilfe eines Handouts, das einschlägige Positionen der Forschung aufführte. Die gemeinsamen Überlegungen zu Goethe verfolgten dessen Entwicklung von radikaler Subjektivierung zu einer Verwissenschaftlichung, die wir im Lehrgedicht Die Metamorphose der Pflanzen näher beleuchteten.
Die Natur und das Ich
In der dritten Sitzung wurden zunächst unterschiedliche Beispiele des komplexen Verhältnisses von Ich und Natur behandelt, der Verlust der Einheit von Ich und Natur (Friedrich Hölderlin) ebenso wie Imaginationen von Natur-Landschaften bis hin zu Natur- als Seelenlandschaften (Joseph von Eichendorff). Eine kritische Gegen-Chiffrierung lieferte Heinrich Heine, der in seinem Gedicht Entartung die Tradition der Naturlyrik grundsätzlich hinterfragt.
Die Zeichenhaftigkeit der Natur, wie sie in der Lyrik Eichendorffs besonders ausgeprägt ist, verbindet sich bei Annette von Droste-Hülshoff mit empirischer, naturkundlich informierter Anschaulichkeit, ohne dass das eine zu Lasten des anderen ginge. Diese komplexe Verschränkung löst sich in der Lyrik der Jahrhundertwende im Zeichen einer radikalen Verkünstlichung auf, wie wir an Beispielen von Stefan George und Hugo von Hofmannsthal herausgearbeitet haben.
Abschließend wurde der Zusammenhang von Naturzustand und Seelenzustand bei Sarah Kirsch beleuchtet, wohingegen bei Silke Scheuermann dystopische Züge der Naturlyrik angesichts einer verheerenden Umweltzerstörung zum Vorschein kommen.
Aus der Evaluation:
“Ich habe vor, die in der Fortbildung interpretierten Gedichte im Unterricht zu verwenden, zum Teil auch schon in den unteren Jahrgangsstufen. Gut war, dass Herr Prof. Dr. Riedl stets die Schwierigkeiten des besprochenen Gedichts thematisiert hat. So konnte man gut einschätzen, ob bzw. für welche Jahrgangsstufe sich das Gedicht eignet.”
“Die Vermittlung von theoretischem Hintergrundwissen hat ebenfalls dazu beigetragen, dass sich das in der Fortbildung Gelernte im Unterricht umsetzen lässt.”
“Besonders gefallen hat mir, dass Herr Prof. Dr. Riedl sehr freundlich, lebhaft und kompetent referiert. Positiv ist auch, dass sich die Inhalte gut für den Unterricht eignen und gleichzeitig viel Neues für den Lehrer bieten, denn das Niveau der Fortbildung ist erfreulich hoch.”