Mathematiklehrer sollten nicht nur von Praktikern lernen, sondern gleichermaßen von Wissenschaftlern. Das schreibt Prof. Dr. Timo Leuders, Direktoriumsmitglied der School of Education FACE und Prorektor Forschung der Pädagogischen Hochschule Freiburg in einem Gastbeitrag in der ZEIT (6/2023). Wir veröffentlichen den Artikel hier im Wortlaut.
Vor vier Wochen zeichnete Jens Weitendorf an dieser Stelle ein düsteres Bild vom Lehramtsstudium, ja sogar ganz grundsätzlich von der Bedeutung der Fachdidaktik als Wissenschaft für die Unterrichtspraxis in Mathematik (“Wer Mathe lehren will, muss von Praktikern lernen!”, ZEIT Nr. 2/23). Auch wenn die Wahrnehmungen eines Seminarlehrers am Gymnasium aus seinen beruflichen Erfahrungen heraus verständlich sein mögen, ergeben sie doch ein verzerrtes Bild. Ich möchte es in einer Gegenthese auf den Punkt bringen: Mathematikdidaktik als Wissenschaft und Mathematikunterricht als Praxis sind keine Gegensätze, im Gegenteil – es gibt vielfältige enge Verknüpfungen, sie sehen nur anders aus als in der Vergangenheit.
Die Mathematikdidaktik hat sich in den letzten Jahrzehnten stürmisch weiterentwickelt zu einer internationalen Wissenschaft, die ihre Erkenntnisse nicht mehr nur auf Reflexion und Kreativität gründet, sondern auf empirische Studien und die darauf aufbauende Entwicklung von Theorien zum Mathematiklernen und Mathematikunterrichten. Die Zahl der Forschungsprojekte und Doktorandinnen und Doktoranden hat sich vervielfacht, die der Fachartikel auch. Darin müssen die theoretischen und methodischen Überlegungen detailliert dargestellt werden, um die Qualität ihrer Befunde überprüfbar zu machen.
Die Zeitschriften, die dies dann veröffentlichen, sind natürlich nicht für Praktikerinnen und Praktiker geschrieben, die sich weniger für einzelne Studien interessieren, sondern sich eher einen Überblick verschaffen wollen oder konkrete Unterrichtsbeispiele suchen. Für diese Lehrkräfte gibt es aber immer schon Praxiszeitschriften. Die Fachgesellschaft für Mathematikdidaktik hat dafür sogar jüngst eine neue Zeitschrift für Mathematikdidaktik in Forschung und Praxis gegründet, die online und frei zugänglich ist.
Forschende arbeiten mit Lehrkräften zusammen
Die Forschungsprojekte der deutschen Mathematikdidaktik sind ausgesprochen breit gefächert. Manche sind eher Grundlagenforschung. Viele Forschende haben aber auch die Praxis im Blick: Sie arbeiten direkt mit den Lehrkräften zusammen, forschen in realistischen Unterrichtssituationen und erzielen auch ganz praktische Ergebnisse – Konzepte und Materialien für das Erlernen der Prozentrechnung etwa oder Erkenntnisse über Lernschwierigkeiten bei den Grundrechenarten. Wie solche Ergebnisse dann wirklich in die Praxis gelangen, ist durchaus noch nicht befriedigend umgesetzt, aber auch hier gibt es neue Ideen und intensive Bemühungen, wie zum Beispiel beim Deutschen Zentrum für Lehrkräftebildung Mathematik (DZLM).
Was also ist die Antwort auf die Frage: Wie viel Wissenschaft und wie viel Praxis gehört in die Lehrkräfteausbildung an den Hochschulen? Erst einmal ist diese Frage falsch formuliert! Hochschulen sind genau der Ort, an dem die Verknüpfung von Praxis und Wissenschaft systematisch stattfinden kann. Studierende fragen und lernen: Welche Rolle spielt das wissenschaftliche Wissen über die Herausforderungen der Bruchrechnung im Unterricht? Wie lassen sich Forschungsbefunde über Chancen und Grenzen des entdeckenden Lernens anwenden? Warum sind manche häufig anzutreffenden Lehrmethoden und -materialien eher nicht wirksam?
Das ist es, was Studierende in ihren Praxissemestern und den daran idealerweise angebundenen Seminaren an der Hochschule lernen. Zugegeben: Nicht immer und überall läuft das ideal. Hier sind die verschiedenen Phasen der Lehrkräftebildung in Deutschland nämlich immer noch nicht genügend verknüpft, trotz umfangreicher Bemühungen im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung.
Zusammengefasst: Wer Mathelehrer werden will, muss sowohl von Wissenschaftlern als auch von Praktikern lernen. Und: Wissenschaftlerinnen und Praktiker sollten sich nicht als Konkurrenten verstehen, sondern die enge Verbindung von Forschung und Praxis als Chance nutzen.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst in der ZEIT 6/2023.
Über den Autor
Prof. Dr. Timo Leuders ist Direktoriumsmitglied der School of Education FACE und Prorektor Forschung der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er lehrt dort Mathematikdidaktik und hat als Gymnasiallehrer gearbeitet.