Goethes Faust löst sowohl bei Lehrer*innen als auch bei Schüler*innen gemischte Gefühle aus. Überwiegt Bewunderung oder Verzweiflung? Warum sollte man sich überhaupt mit einem historischen literarischen Text beschäftigen, der mit der heutigen Zeit wenig gemeinsam hat? Da Faust I seit 2021 zu den Pflichtlektüren für das Deutschabitur zählt, widmeten sich Prof. Dr. Riedl von der Uni Freiburg und Deutsch-Lehrkräfte aus dem gesamten Bundesgebiet diesen Fragen und warfen einen tieferen Blick in das Werk.
In der dreiteiligen Online-Lehrkräftefortbildung „Faust. Stoff, Mythos, Drama“ der School of Education FACE im März und April 2022 gelang es, die Brücke zwischen Schule und Universität zu schlagen, indem die teilnehmenden Lehrkräfte an der aktuellen Faustforschung teilhaben konnten. Die Fortbildungsgruppe artikulierte den Wunsch nach einer stark fachwissenschaftlichen Ausrichtung der Veranstaltung. Referent Prof. Dr. Peter Philipp Riedl passte das Fortbildungskonzept daraufhin an. Gemeinsam analysierten und diskutierten sie zentrale Szenen des Dramas.
Dabei wurde deutlich, dass die Lektüre eines historischen literarischen Textes zunächst einmal eine Fremdheitserfahrung ist. Anstatt den Text vorschnell auf die Gegenwart und auf persönliche Erfahrungen zu beziehen, sollten Deutschlehrer*innen ihren Schüler*innen zeigen, wie man einen solchen Text in seinem historischen Kontext betrachtet.
In der ersten Sitzung stellte Referent Prof. Dr. Peter Philipp Riedl die Stoffgeschichte, Mythos sowie die Werkgenese von Goethes Faustdichtung vor. Er begann mit der literarischen Geburtsstunde des Stoffes, der anonym veröffentlichten Historia von D. Johann Fausten (1587). Die Ausgangsfragen waren vermeintlich einfach: Wer ist Faust? Warum und wie wurde er zu einer mythischen Figur, ja zu einer Symbolfigur der Neuzeit und der Moderne? Von der anspruchsvollen Beantwortung dieser Fragen hängt es ab, ob Lehrer*innen das Interesse einer heutigen Generation von Schüler*innen für Goethes Drama wecken können.
Neben seiner Rast- und Ruhelosigkeit verkörpert Faust auch unser modernes Wissenschaftsprinzip. Zugleich leidet er an den Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten und flüchtet sich kompensatorisch in Ablenkungen und sinnliche Begierden. Dabei lädt er schwere Schuld auf sich, ist doch seine Liebesbeziehung zu Margarete in jeder Hinsicht asymmetrisch.
All das ist fraglos auch heute noch nachvollziehbar. Allerdings müssen diese Einsichten textanalytisch erarbeitet werden. Dazu hat die Gruppe den Begriff der Alterität fruchtbar gemacht. Alterität meint in diesem Fall die Anerkennung, dass ein über zweihundert Jahre alter Text für heutige Leser*innen zunächst einmal fremd erscheint, ja fremd erscheinen muss, zumal im Kontext der Schule, in der eine entsprechende Vorbildung nicht vorausgesetzt werden kann. Im Zentrum der exemplarischen Textinterpretationen stand daher die produktive Auseinandersetzung mit dieser Fremdheitserfahrung und wie man sie im Unterricht fruchtbar machen kann, ohne sie durch vordergründige Aktualitätsbezüge leichtfertig zu überspielen.
In der zweiten Sitzung stand die Struktur und Gehalt der Gretchentragödie im Kontext der sozialgeschichtlichen Problematik des Kindsmords im Mittelpunkt. Der Gretchentragödie in Goethes Faust I liegt insbesondere der historische und gut dokumentierte Fall der Susanna Margaretha Brandt aus Frankfurt am Main zugrunde. Der vergleichende Blick auf den historischen Fall und die literarische Adaptation verdeutlicht die verzweifelte, ja ausweglose Notlage von jungen Frauen, die unehelich schwanger wurden, die Verantwortung für alles Folgende indes allein aufgebürdet bekamen. An diesem Befund sowie am konkreten Umgang von Goethes Faust mit Margarete entzünden sich auch grundlegende ethische Fragen, die Oberstufenklassen im Rahmen einer Beschäftigung mit Goethes Drama im schulischen Unterricht diskutieren können.
Die dritte Sitzung widmete sich zunächst der psychologischen Dramaturgie der Gretchentragödie. Durch die konkrete Textanalyse konnten noch einmal grundlegende ethische Fragen nach Schuld und Verantwortung diskutiert werden. Auf Wunsch von Teilnehmenden stand im zweiten Teil der Sitzung und zum Abschluss der Lehrkräftefortbildung das Thema „Faust und Musik“ auf dem Programm. Dieser Komplex wurde in drei Bereiche aufgefächert: Drama und/als Libretto, Musik(alisches) in Goethes Faust sowie Faust-Vertonungen.
Für alle Themenbereiche und Schwerpunkte der drei Sitzungen wurden den Teilnehmer*innen einschlägige Handouts zur Verfügung gestellt.
Aus der Evaluation:
„Ich kann eigentlich alles sehr gut für den Unterricht verwenden, wenn zum Teil auch nur in abgespeckter Form”.
„Vor allem die konkrete Textarbeit ist das, was man im Deutschunterricht braucht. Gerade das, was Herr Prof. Riedl mit dem Begriff ‚Semantik der Form‘ bezeichnet, lässt sich im eigenen Unterricht umsetzen.“
„Herr Prof. Riedl war sehr gut vorbereitet und war auch bereit, auf die Wünsche der Teilnehmenden einzugehen.“
Prof. Dr. Peter Philipp Riedl, Aliena Kempf und Beate Epting