Das Verhalten von neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern weicht teilweise von den Normen oder Erwartungen im Klassenraum ab, sei es durch sprachliche Verständnisprobleme oder andere Wissensstände. Wie gehen Lehrpersonen mit diesen Abweichungen um? Welche Strategien im Umgang mit individuellen Unterschieden im Klassenzimmer lassen sich in den Interaktionen beobachten? Und warum ist es relevant, wie mit Heterogenität umgegangen wird? Die Ergebnisse des Forschungsprojektes von Ina Kordts, welches im Rahmen des Promotionskollegs CURIOUS entstanden ist, gewähren Einblicke in das Handeln anderer Lehrpersonen und sollen als Grundlage zur Reflexion des eigenen Umgangs mit Heterogenität dienen.
Worum geht es?
Kinder und Jugendliche, die im Zuge der neueren Migrationsbewegungen nach Deutschland gekommen sind, kommen schnell mit dem deutschen Schulsystem in Berührung. Über Vorbereitungsklassen oder durch Direkteinstieg sitzen sie mit durchgängig im deutschen Schulsystem beschulten Kindern in einer Klasse und werden von den Lehrerinnen und Lehrern auf unterschiedlichste Weise in den Regelunterricht integriert. Die Anforderungen dabei sind komplex: Zugewanderte Schülerinnen und Schüler verhalten sich mitunter normabweichend, sei es durch sprachliche Verständnisprobleme, andere Wissensstände oder Unkenntnis über hier geltende Vorgehensweisen und Regeln. Lehrpersonen müssen daher ein größeres Repertoire an Strategien einsetzen, um diese Schülergruppe zu integrieren und benötigtes Wissen zu vermitteln, als es bei im deutschen Schulsystem sozialisierten Kindern in der Regel nötig ist. Diese migrationsbedingte Ungleichheit im Klassenzimmer stellt eine weitere Herausforderung dar, mit der Lehrpersonen umzugehen haben. Wissenschaftlich sind diese Erfahrungen und Strategien kaum systematisiert und es ist wenig erforscht, wie denn konkret in solchen (nicht nur) sprachlich heterogenen Klassenzimmern interagiert wird.
An dieser Nahtstelle setzt das vorliegende Forschungsprojekt an: Durch umfassende Hospitationen, Video- und Audioaufnahmen in Klassen, in denen solche sogenannten Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger beschult werden, hatte ich die Möglichkeit, Strategien zu identifizieren und möchte nun an der Nahtstelle Forschung und Lehre ansetzen: Durch das Herausarbeiten bestimmter Umgangsweisen soll diese Forschung Lehrenden Einblicke in das Handeln anderer Lehrpersonen gewähren.
Der Ansatz meines Forschungsprojektes zu Interaktionen zwischen Lehrpersonen und neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern im Regelunterricht der Sekundarstufe und damit auch dieses Artikels ist ein rekonstruktiver: Ich beobachte und beschreibe detailliert, wie Unterricht in Klassen mit mindestens drei Jugendlichen aussieht, die maximal seit 24 Monaten eine deutsche Regelklasse besuchen und somit als Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger gelten. Ein solches, von Einzelfällen ausgehendes Vorgehen erlaubt einen tiefgehenden und detaillierten Einblick in soziale Prozesse und Beziehungen und ist in den Sozialwissenschaften ein etabliertes Verfahren.
Dabei lässt sich vielen Fragen nachgehen: Unterscheiden sich die Interaktionen von Lehrpersonen mit Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern von denen mit durchgängig in Deutschland Beschulten? Gibt es Unterschiede zwischen den Schultypen? Wie binden die Lehrpersonen Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger in das Unterrichtsgespräch ein und welches Bild von Unterschieden und Heterogenität im Allgemeinen wird in der Klasse gelebt und vermittelt? Aus dieser Fülle möglicher Fragen konzentriere ich mich für diesen Beitrag auf den Umgang mit Heterogenität als einem Phänomen, mit dem man als Lehrperson immer wieder konfrontiert wird.
Warum ist es relevant, wie mit Heterogenität umgegangen wird?
Heterogenität und der Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft sind wichtige Schlagworte im schulpädagogischen Diskurs (z.B. Budde, 2012). Anfang des 21. Jahrhunderts wurde die Diskussion um ihre Relevanz von den Ergebnissen internationaler Schulleistungsuntersuchungen angestoßen. Seit PISA ist klar, dass z.B. der Migrationshintergrund eine nicht zu vernachlässigende Variable für Schulerfolg ist und Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund an niedrigeren Schulformen prozentual stärker vertreten sind (vgl. Sturm, 2016). Dies ist insbesondere bei den sogenannten Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern, die nicht durchgängig in Deutschland beschult wurden, der Fall. Diese Schülerinnen und Schüler erleben, dass sie aufgrund ihrer Sprachkenntnisse Schwierigkeiten haben, der Unterricht anders als in ihrem Heimatland aufgebaut ist, sie oft zurückgestuft werden und nicht selten auch nur Schulplätze an niedrigeren Schulformen zugewiesen bekommen.
Dies zu ändern und somit den Kreislauf von sozialer (Re-)Produktion von Ungleichheit zu durchbrechen, muss einerseits strukturell auf der Systemebene geschehen, sprich in der Ausgestaltung von Schule an sich. Andererseits zeigen Untersuchungen, dass Inklusion und Exklusion, die u.a. Ungleichheit reproduzieren, auch auf der Mikroebene, also im Unterricht hergestellt werden (Trautmann & Wischer, 2011). Daher ist es wichtig, den Umgang mit heterogenen Lerngruppen zu reflektieren, um ein bewusstes Handeln und gegebenenfalls Veränderungen zu ermöglichen.
Drei Sequenzen aus dem Mathematikunterricht an unterschiedlichen Schulen sollen im Folgenden verdeutlichen, wie Differenzen, die aus der Heterogenität der Schülerschaft resultieren, bearbeitet werden:
Mathematikunterricht, 10. Klasse, privates Gymnasium:
In einer Einzelarbeitsphase schreibt eine chinesische Schülerin entgegen der Anweisung des Lehrers ihre Rechnungen auf den Aufgabenzettel und nicht auf ein Extrablatt. Beim Herumgehen entdeckt er es und spricht sie darauf an.
Hier wird die Arbeitsanweisung nicht befolgt – der Grund ist zunächst nicht ersichtlich.
Mathematikunterricht, 10. Klasse, Wirtschaftsgymnasium:
Eine Schülerin aus Afghanistan löst eine Gleichung und schreibt in eine zweite Zeile gekürzte Brüche. Dabei streicht sie jeweils den Nenner und Zähler in der oberen Zeile durch. Ihre Lehrerin weist sie darauf hin, dass Durchgestrichenes nicht gewertet wird.
Die heterogenitätsbedingte Abweichung liegt hier darin, dass die Schülerin schriftlich ihre Rechnung anders festhält als in Deutschland üblich. Hier ist die Formebene betroffen.
Mathematikunterricht, 9. Klasse, Werkrealschule:
Ein Schüler aus Syrien soll seinen Rechengang erklären und scheut sich. Als er es doch macht, zeigen sich Probleme beim Verbalisieren. Der Lehrer kommentiert dies.
Die Sprachkenntnisse sind hier Auslöser für die Bearbeitung der Schülerleistung.
In allen drei Fällen weicht das Vorgehen der Schülerinnen und Schüler von den Vorgaben oder Erwartungen ab, die die Lehrpersonen gesetzt haben. Wie gehen die Lehrpersonen nun damit um?
Ziel dieses Beitrags ist es, Ihnen als Lehrerinnen und Lehrern durch eine genaue Analyse der obigen Situationen einen Einblick in den Umgang mit Heterogenität in real existierenden Klassenzimmern zu gewähren. Ein solch bewusster Blick ermöglicht laut Schmitt (2011, S. 13) „einen reflexiven Zugang zur faktischen Komplexität der Anforderungen an […] [die] berufliche Praxis und […] so die Möglichkeit des bewussten Handelns und dessen Veränderung“.
Was wissen wir über Heterogenität?
Neben den Ergebnissen von PISA und anderen Schulleistungsstudien gibt es vielfältige Forschung zu Heterogenität in der Schule. Der Begriff Heterogenität bezieht sich im Kontext Schule meist auf die Schülerschaft. Er beschreibt, dass sich die Schülerinnen und Schüler in einem oder mehreren Aspekten voneinander unterscheiden und es so eine gewisse Bandbreite von Ausprägungen eines Merkmals gibt, z.B. hinsichtlich der Beherrschung einer Sprache oder dem sicheren Ausführen einer Rechenoperation. Daher ist Heterogenität ohne Differenz nicht denkbar und beruht immer auf einem Vergleich. Differenzen oder auch Abweichungen sind somit „die Relation von mindestens zwei zueinander in Beziehung gesetzten Eigenschaften oder von anderen verglichenen Aspekten“ (Sturm, 2016, S. 15). Typischerweise herangezogene Merkmale, die verglichen werden, beziehen sich auf die soziale und/oder kulturelle Herkunft, Leistung, Motivation, Begabungen, Alter und Geschlecht – sie werden als Differenzdimensionen bezeichnet.
Auch wenn das deutsche Schulsystem über altersgleiche und leistungsähnliche Klassen (zumindest im Sekundarbereich) nach Homogenität strebt, so sind doch Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern, aber natürlich auch Abweichungen von den curricular gesetzten Anforderungen tägliche Erfahrung von Lehrpersonen, mit denen sie umgehen müssen.
Aus einer sozial-konstruktivistischen Sicht auf Heterogenität werden Differenzen in sozialen Interaktionen hergestellt und bearbeitet (vgl. Koole, 2003; Trautmann & Wischer, 2011). Differenzen oder Abweichungen können z.B. auftreten, wenn Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Wege in der Bearbeitung von Aufgaben wählen, sich abweichend verhalten oder unterschiedliche Kompetenzgrade zeigen. Die Bearbeitung dieser auftretenden Differenzen geschieht dann meist interaktiv. In diesen „Bearbeitungen“ wird oft deutlich, welche Haltungen und Überzeugungen die Lehrpersonen in Bezug auf Heterogenität haben – im erziehungswissenschaftlichen Diskurs werden diese als entscheidend für das Unterrichten heterogener Lerngruppen angesehen (vgl. Vock & Gronostaj, 2017). Montes (2002) zeigt beispielsweise, dass die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die Lehrpersonen der sprachlichen und kulturellen Herkunft der Lernenden entgegenbringen, Einfluss darauf zu nehmen scheint, inwieweit sich sprachliche Fördermaßnahmen im Unterricht auf die Sprachkompetenz von Lernenden positiv auswirken.
Exemplarische Einblicke in den Umgang mit Heterogenität
Für dieses Projekt wurden in drei Klassen an drei verschiedenen Schulen (Werkrealschule, privates Gymnasium mit Internat, Wirtschaftsgymnasium) Audio- und Videoaufnahmen aus dem Unterricht sowie Beobachtungsprotokolle angefertigt. Für die Fächer Mathematik und Geschichte/Gemeinschaftskunde wurden diese verschriftlicht und ausgewählte Sequenzen dann in gesprächsanalytische Transkriptionen überführt. Für die Analyse wird nach der konversationsanalytischen Maxime „Why that now?“ versucht zu rekonstruieren, wie sich die Beteiligten jeweils auf die Äußerung des Anderen beziehen und so sozialen Sinn herstellen. Ich habe gleichzeitig auf das Konzept der sozialen Positionierung (Harré & van Langenhove, 1999) zurückgegriffen. Es beruft sich darauf, dass wir durch das, was wir sagen, unser Gegenüber und auch uns selbst Merkmale zuschreiben und uns so wechselseitig im sozialen Raum positionieren (Antaki & Widdicombe, 1998). Auf diese Weise lässt sich zeigen, was eigentlich in der jeweiligen Sequenz passiert und welches Bild den Schülerinnen und Schülern bei auftretenden Differenzen vermittelt wird.
In der folgenden Sequenz[1] wird so klar, dass der Lehrer mit einer Normverletzung umgeht, indem er sie herunterspielt und sie wegen der guten Leistungen der Seiteneinsteigerin akzeptiert:
Mathematikunterricht, 10. Klasse, privates Gymnasium:
1 L: jenna kann ich_s SEhen?
2 Jnn: JA;
3 L: ah du hast da < REINgeschrieben;>
4 °hh (1.0) < JA;>
5 ich gebe AUF zu sagen,=
6 =schreib nicht da REIN damit du wieder üben kannst,
7 weil du ES–
8 du kannst es sowieso RICHtig;
9 (1.4) J[A; ]
10 Jnn: ([ist] gleich (.) < ACHT>zig;)
In der Einzelarbeitsphase schreibt Jenna, eine junge Chinesin, die seit 8 Monaten in der Klasse ist, auf das Aufgabenblatt, obwohl der Lehrer die Schülerinnen und Schüler vorher aufgefordert hat, die Rechnungen separat festzuhalten. Als er diese Abweichung von seiner Aufgabenstellung sieht – sie könnte auf den ersten Blick auf sprachliche Verständnisschwierigkeiten zurückzuführen sein – weist er auf diese Normverletzung hin (Z. 3). Das Lachen kann dabei als Signal für eine Abschwächung seiner Kritik gewertet werden, da Kritik grundsätzlich gesichtsbedrohend sein kann. Gleichzeitig ist es Ausdruck einer lehrerseitigen Resignation. Im Folgenden macht er deutlich, dass es nicht das erste Mal ist, dass sie auf den Zettel schreibt (ich gebe AUF zu sagen,=;
Z. 5) – dies widerspricht dem ersten Eindruck, dass es durch sprachliche Verständnisprobleme zu erklären sein könnte. Er expliziert im Folgenden, warum er diese Norm setzt: die Schüler sollen üben können. Die Notwendigkeit, die Norm zu befolgen, spielt er herunter, indem er darlegt, warum diese für Jenna nicht gelten muss: sie beherrscht das zu Übende bereits (du kannst es sowieso RICHtig;;
Z. 8). Damit setzt er das abweichende Verhalten wiederum mit ihrem ebenfalls vom Rest der Klasse (positiv) abweichenden Kenntnisstand in Zusammenhang, referiert dabei aber nicht auf ihre Herkunft. Vielmehr wird deutlich, dass er mit seinen Arbeitsanweisungen gewisse Intentionen verfolgt; betreffen diese aber eine Schülerin nicht, ist er bereit, Ausnahmen zuzulassen bzw. die Missachtung seiner Arbeitsanweisung nicht zu sanktionieren.
Eine andere Situation stammt ebenfalls aus dem Mathematikunterricht. Eine Schülerin aus Afghanistan hat beim Lösen einer Gleichung Brüche durchgestrichen, die sie in der Reihe darunter gekürzt notiert hat.
Mathematikunterricht, 10. Klasse, Wirtschaftsgymnasium:
Die Schüler bearbeiten ihre Aufgaben, Ayla löst eine Gleichung und schreibt in eine weitere Zeile gekürzte Brüche. Dabei streicht sie jeweils den gekürzten Nenner und Zähler in der oberen Zeile durch. Frau Nikolaus geht herum und schaut den Schülerinnen und Schülern über die Schulter und hilft, wo es nötig ist. Bei Ayla bleibt sie stehen, beugt sich nach vorn und sagt: „Nicht durchstreichen, nicht durchstreichen! Alles, was bei uns durchgestrichen ist, gilt nicht, das ist bei uns die Regel.“ Währenddessen zeigt sie auf Aylas Zettel. Ayla schaut kurz auf, sagt „ah ok“ und vermeidet in der nächsten Zeile das Durchstreichen.
Aus: Beobachtungsprotokoll WG_MA_5
Hier bearbeitet Ayla, eine junge Afghanin, die im Iran aufgewachsen und seit ca. 8 Monaten in der Klasse ist, die Aufgabe anders als vorgesehen und die Lehrerin reagiert darauf mit der Aufforderung, dies nicht zu machen. Sie benutzt dabei den negierten Infinitiv als Imperativ („nicht durchstreichen!
“) und wiederholt diesen zwei Mal. Im Anschluss liefert sie eine Erklärung, warum das Durchstreichen zu vermeiden ist: Alles Durchgestrichene gelte nicht. Interessanterweise erweitert sie ihre Erklärung mit „bei uns
“ und dies ebenfalls zwei Mal. Ayla zeigt an, dass sie dies verstanden hat und passt ihr Verhalten an die Regel an.
Was fällt hier auf? Die Differenz ist hier keineswegs sprachlicher Natur, sondern liegt auf der Formebene beim Ausführen der Rechenoperation. Die Lehrerin weist auf das abweichende Verhalten hin und begründet dies auch. Sie etabliert durch das „bei uns
“ ein „Wir“ und konstruiert somit indirekt eine Andersheit Aylas, bezogen auf ihr Vorgehen: Dies mag darauf hinweisen, dass sie sehr wohl zur Kenntnis nimmt, dass die Form der Rechnung woanders anders aussehen und dort akzeptiert werden kann, aber die Normen „bei uns
“ gelten und sich daran zu halten sei. Sie weist also auf Handlungsräume und die dort verankerten Gepflogenheiten hin. Zugleich schafft sie ein hierarchisches Verhältnis von Bearbeitungsformen, die ggf. auch kulturell oder schulsystembedingt sind. Das Ansprechen der Differenz ist geprägt durch den indirekt geäußerten Gegensatz zwischen „bei uns
(in Deutschland)“ und „bei euch (woanders)“. Hier werden die örtliche Herkunft bzw. Zugehörigkeit relevant gesetzt und als Anlass für den Hinweis auf ein regelkonformes Ausführen benutzt. Hier schon von negativem „Othering“ zu sprechen, ginge wohl zu weit. Auffällig ist trotzdem, dass die Herkunft Aylas im Handeln dieser Lehrerin eine Rolle spielt.
Die beiden bis jetzt vorgestellten Sequenzen unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt: Die Differenz, die zu einer Reaktion der Lehrperson führt, schließt sich zwar beide Male an Vorgaben an, wie Dinge gemacht werden sollen – im Falle von Jenna werden diese vom Lehrer gesetzt und sind damit auch von ihm zurücknehmbar. Im Falle von Ayla handelt es sich hingegen um eine von höherer Instanz gesetzte Norm, die die Lehrerin als unverhandelbar betrachtet.
Als weiteres Beispiel möchte ich nun noch eine Sequenz vorstellen, in der die Sprachkompetenz des Schülers Anlass zum Bearbeiten von Heterogenität gibt:
Mathematikunterricht, 9. Klasse, Werkrealschule:
1 L: HAMza-
2 verSUCH mal (.) zu erklären,
3 WAS du gemacht hast und WAS wir gemacht haben.
4 =verSUCHS mal.
5 und wir verSUCHen ma zuzuhören-
6 und auch dem (.)hamza mal zuRÜCKmelden ob ihr des verstanden habt oder nicht; ja,
7 verSUCHS ma hamza;
8 Hmz: (aber ich KANN [kein...)]
9 L: [ja verSUCHS,]
10 du kannst auch an die TAfel gehen,
11 kannst auch ANzeichnen skizzieren wie du willst;
12 was hast du als erstes zweites drittes geMACHT,
13 und zu welchem resulTAT bist du gekommen.
14 zu welchem erGEBnis bist du gekommen.
15 verSTEHST du was ich möchte,
16 Hmz: ja ja-
17 L: ja is SCHWER für dich,
18 aber trotzdem verSUCHS doch mal-
19 Hmz: müssen wir zuERST einmal diese (.) äh (drei) zentimenter-
20 L: (DIE sollen) du sollst es DENen erklären;
21 Hmz: was (ist xxx)
22 L: ich kann das.
23 Hmz: ja dann PASST,
24 (-) (ist AUCH richtig,)
25 (1.5) müssen wir zuERST einmal den (.) drei (.) vier ecke,
26 das_s drei centiMEter,
27 (2.0) und dann müssen wir den HIER,
28 (3.0)dann-
29 (6.3)((schreibt an Tafel))
[[Auslassung]]
47 L: hamza d_war gar nicht SCHLECHT;
48 du hast eigentlich ganz gut ANgefangen,
49 (wo_s)
50 (-) also die andern könnens AUCH nicht besser; ja,
51 vielleicht noch n bisschen (.) so wars n bisschen SCHNELL,
52 aber es war GAR nicht schlecht; ok?
53 Ibrahim,
54 willst DU_s nochmal versuchen;
Während in den Beispielen vorher jeweils ein abweichendes Vorgehen zur Bearbeitung von Differenz geführt hat, ist es in diesem Unterrichtsausschnitt ein abweichendes Kompetenzniveau:
Dem 17-jährigen Hamza aus Syrien, der seit 3 Monaten in der Klasse ist, fällt es schwer, die mathematische Operation zu verbalisieren und seinen Klassenkameraden zu erklären. Er scheut sich zuerst. Der Lehrer ermuntert ihn, es doch zu „versuchen“ und benutzt das Verb insgesamt sechs Mal. Dietrich (2010) hat dies als eine typische Art beschrieben, um Aufgaben in Hauptschulen zu stellen: Etwas zu versuchen heißt, dass ein mögliches Scheitern gleich mitgedacht wird. Ohne diese Lesart nun direkt auf die Schulform zu beziehen, ist die häufige Verwendung in diesem Unterrichtsausschnitt auffällig und geht mit weiteren Ermunterungsaktivitäten einher: der Anerkennung, dass dies für Hamza SCHWER
sei (Z. 17), der Anpassung des Vokabulars durch die Wiederholung des Satzes mit erGEBnis
anstatt resulTAT
(Z. 13f.), der Vergewisserung, ob er es verstanden habe etc. Auch dieser Lehrer operiert mit „du“ und „wir“, allerdings oft das Gemeinsame betonend. So hat Hamza etwas gemacht (WAS du gemacht hast
) und wir
(Z. 3) auch. Dieses Gemeinsame wird auch im Feedback erneut betont, denn sein Leistungsstand wird zwar nicht als gut, aber als jedenfalls nicht hinter dem der anderen zurückfallend charakterisiert (also die andern könnens AUCH nicht besser;;
Z. 50). Gleichzeitig wird durch die Verständnissicherung und die Anpassung des Vokabulars klar, dass der Lehrer Hamzas Sprachkompetenz stark im Blick hat und diese als das Abweichende in diesem Unterrichtsausschnitt immer wieder implizit thematisiert wird. Hamza wird in dieser Sequenz eine Sonderrolle zugeschrieben, die zu spezifischen Ermutigungen führt, damit sein Sprachstand ihn nicht an einer aktiven Beteiligung hindert.
Was heißt das für die Praxis?
Die Beispiele zeigen auf, dass Lehrpersonen verschiedenste Strategien einsetzen, um individuellen Unterschieden im Klassenzimmer zu begegnen. Dabei geben die Ausschnitte selbstverständlich keinen umfassenden Einblick in den generellen Umgang mit Heterogenität in den vorgestellten Klassen, sondern sind als Denkimpulse und Diskussionsgrundlage zu verstehen. Sie zeigen exemplarisch auf, wie auftretende Abweichungen von Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern von Lehrpersonen interaktiv bearbeitet werden (können) und welche Zuschreibungen dabei implizit getätigt werden.
Die Analysen sind Bausteine für einen mehrdimensionalen Einblick z.B. in „versteckte“ Leistungen von Lehrpersonen und ihr Zusammenspiel mit den regulären Aufgabenkomplexen im Unterricht, wie es im Rahmen des Promotionsprojektes untersucht wird. Ein solcher Blick auf die Mikroebene des konkreten Unterrichtshandelns kann einen Beitrag in der Diskussion um individuelle Förderung und (sprachliche) Heterogenität im Regelunterricht leisten sowie Grundlagenwissen für die Lehrerausbildung generieren.
Sie wollen am Thema dranbleiben?
Wenn Sie das Thema interessiert, nutzen Sie diese Beispiele gerne, um Ihren eigenen Umgang mit Heterogenität zu reflektieren.
Sie können dafür stichwortartig eine Situation aufschreiben, in der bearbeitungsbedürftige Unterschiede in Ihrer Schülerschaft sichtbar wurden und für sich überprüfen, wie Sie diese Differenz bearbeitet haben. Folgende Fragen können Sie zur Unterstützung heranziehen:
- Wie positionieren Sie Ihre Schülerinnen und Schüler in der Situation?
- Hätte es andere Möglichkeiten gegeben und wenn ja, welche?
- Welche Differenzdimensionen (Leistung etc.) setzen Sie relevant?
- Müssen Sie Regeln explizieren, die Sie für selbstverständlich hielten? Erleben Sie das auch als produktiv für die Restklasse?
- Und: Macht es überhaupt einen Unterschied für den Umgang mit Differenzen, ob abweichendes Verhalten bei neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern auftritt oder bei jenen, die durchgängig in Deutschland beschult wurden?
Wenn Sie Ihren Blick weiter in diese Richtung schärfen wollen, könnten Sie auch im Kollegium eine Fallsammlung erstellen und solche Situationen in einer kollegialen Beratung durchsprechen – oft sehen Andere weitere Handlungsmöglichkeiten, die vorher verborgen waren. Denn, um an Schmitts (2011) Worte zu erinnern: Das eigene Handeln zu reflektieren schafft die Möglichkeit, bewusst zu agieren und damit gegebenenfalls auch Handeln zu verändern.
[1] Die im folgenden wiedergegebenen Ausschnitte sind nach dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem 2 (GAT 2) transkribiert. Großgeschriebene Buchstaben verweisen auf eine betonte Silbe, eckige Klammern zeigen simultanes Sprechen an, die eingeklammerte Zahl bildet die Dauer einer Pause in Sekunden ab.
Ina Kordts
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Deutsches Seminar – Germanistische Linguistik
Kontakt:
E-Mail: ina.kordts@ph-freiburg.de
Prof.in Dr. Helga Kotthoff
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Deutsches Seminar – Germanistische Linguistik
Prof. Dr. Jörg Hagemann
Prof.’in Dr. Gabriele Kniffka
Pädagogische Hochschule Freiburg
Literatur
Antaki, C. & Widdicombe, S. (1998). Identities in Talk. London: Sage.
Budde, J. (2012). Die Rede von der Heterogenität in der Schulpädagogik: Diskursanalytische Perspektiven. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Social Research, 13(2), Art. 16.
Dietrich, C. (2010). Zur Sprache kommen: Sprechgestik in jugendlichen Bildungsprozessen in und außerhalb der Schule. Weinheim: Juventa.
Harré, R. & van Langenhove, L. (1999). Positioning Theory: Moral contexts of intentional action. Oxford: Blackwell.
Koole, T. (2003). The interactive construction of heterogeneity in the classroom. Linguistics and Education, 14(1), 3–26.
Montes, F. (2002). Enhancing content areas through a cognitive academic language learning based collaborative in South Texas. Bilingual Research Journal, 26(3), 697–716.
Schmitt, R. (2011). Unterricht ist Interaktion! Zur Rahmung des Bandes. In R. Schmitt (Hrsg.), Unterricht ist Interaktion! Analysen zur de-facto-Didaktik (S. 7-30). Mannheim: Leibniz-Institut für Deutsche Sprache.
Sturm, T. (2016). Lehrbuch Heterogenität in der Schule (2. Aufl.). München: UTB.
Trautmann, M. & Wischer, B. (2011). Heterogenität in der Schule: Eine kritische Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Vock, M. & Gronostaj, A. (2017). Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Abgerufen unter https://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/13277.pdf
Zum Weiterlesen
Sturm, T. (2016). Lehrbuch Heterogenität in der Schule (2. Aufl.). München: UTB.