Praxiskolleg Ringvorlesung WS 19/20 „Theater und Schule“ am 21.11.2019
Mit Migrationshintergrund in Deutschland: Ein stark stigmatisiertes Thema, das viele Menschen trifft und bewegt. Prof. Dr. Anne Steiner zeigte mit ihrem Vortrag, dass das postmigrantische Theater Möglichkeiten bietet die eigene Wahrnehmung aufzudecken, zu hinterfragen, neu auszurichten und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass jede Wahrnehmung sozial konstruiert wird.
Prof. Dr. Anne Steiner lehrt deutsche Literatur und ihre Didaktik (mit den Schwerpunkten Theaterdidaktik, Drama und Theater) an der PH Freiburg und leitet das Besondere Erweiterungsfach Theater.
Kam man früh genug in den Vorlesungssaal, wurde man von aufwühlender Musik (einem Ausschnitt aus Ebow: „K4L“) begrüßt, welche den Vorlesungssaal in eine ungewöhnliche Stimmung tauchte. Durchaus passend, da das Thema Migration in Deutschland viele Gemüter aufwühlt. Zu Beginn ihres Vortrags definierte Steiner den Begriff „postmigrantisch“ mit „nach der Migration“, es handelt sich daher um die zweite und dritte Generation einer eingewanderten Familie. Diese zwei Generationen sind zwar nicht selbst eingewandert, aber haben die Migration ihrer Eltern oder Großeltern kollektiv in der Familie erfahren.
Das Fremde und das Eigene
Das Theater fungiert nach Steiner als Ort der Aufklärung und beschäftigt sich mit den zeitgenössischen Diskursen in einer Gesellschaft. So spricht das postmigrantische Theater über die hybriden Lebenskonstruktionen postmigrantischer Menschen und setzt sich damit auseinander, dass der Diskurs über Migration in Deutschland noch immer als ein Diskurs über das Fremde und das Eigene geführt wird, in dem das Fremde als Abweichung vom Eigenen und darin als potentiell bedrohlich gilt. Als passendes Beispiel zeigte Steiner ein Foto aus einer Inszenierung von Wedekinds „Frühlings Erwachen“, auf dem vier Mädchen im Jugendalter zu sehen sind. Zwei der Jugendlichen sind freizügig und modern gekleidet, eine trägt ein mädchenhaftes, geschlossenes Kleid und die vierte trägt ein Kopftuch und langärmelige, geschlossene Kleidung in gedeckten Farben. Man kommt als Publikum nicht umhin sich zu fragen: Ist die Schauspielerin muslimisch oder ist es die Figur? Markiert das Kopftuch die Spielerin oder die Rolle, die sie spielt? Und passt eine Muslima in die von Wedekind geschaffene Welt? Postmigrantische Theatertexte spielen mit dieser Wahrnehmung und stellen die Frage: Wie wird Wahrnehmung gelenkt?
Als eine Form der Lenkung und der Konstruktion und Dekonstruktion von Wahrnehmung in postmigrantischen Theatertexten kann die Strategie der Selbstethnisierung beschrieben werden, derer sich manche der Figuren bedienen. Unter dieser Strategie versteht die Soziologie eine Form der bewussten Inszenierung der eigenen Person als Angehörige einer bestimmten religiösen, ethnischen oder gesellschaftlichen (Rand-)Gruppe, die gerade von Menschen vorgenommen wird, die von der Mehrheitsgesellschaft auf ihr migrantisches „So-Sein“ reduziert, mit stereotypen Zuschreibungen versehen und in ihrer Individualität nicht wahrgenommen werden. Das bewusste Annehmen und Ausstellen dieses „Andersseins“ entwickelt eine subversive Kraft, weil es von der Gesellschaft nicht anerkannten Menschen die Möglichkeit gibt, sich selbst zu stilisieren, sich selbst als fremd darzustellen und sich somit polemisch der Gesellschaft entgegenzustellen, deren Teil sie sind.
Stereotypen wahrnehmen und dekonstruieren
Zur Demonstration stellt Steiner drei postmigrantische Theaterstücke vor: „Schwarze Jungfrauen“ von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, „Arabqueen oder das andere Leben. Nach dem Roman von Güner Balci“ von Nicole Oder und Elisabeth Tropper und Nurhan Erpulats „Verrücktes Blut“. Alle drei Stücke greifen Stereotypen auf, die in der Gesellschaft verankert sind. Die Stereotypen können jedoch erst dekonstruiert werden, wenn sie bewusst wahrgenommen werden. In „Arabqueen“ zum Beispiel trägt die Protagonistin Fatme das Kopftuch, um mehr Freiheiten von ihrem Vater zu erhalten. Im Kontrast dazu steht das Kopftuch in der westlichen Gesellschaft, die von Fatmes Schwester Mariam verkörpert wird, für die Unterdrückung der Freiheit. Für Fatme jedoch bedeutet das Kopftuch mehr Freiheit, nicht weniger. Mit vielen weiteren Praxisbeispielen zeigt Steiner wie die drei Theaterstücke Wahrnehmung konstruieren und dekonstruieren, wie sie Wahrnehmungsweisen bewusst unterlaufen und durchbrechen.
Lernen Vorurteile zu dekonstruieren
Postmigrantisches Theater, d.h. die Auseinandersetzung mit postmigrantischen Theatertexten und Inszenierungen im Literaturunterricht, bietet Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit über theatrale Codes und Zeichen und über Theaterrezeption und Theaterästhetik nachzudenken und intensive theaterästhetische Erfahrungen zu machen. Es bietet ihnen zusätzlich die Möglichkeit, über eigene Vorurteile nachzudenken und die eigene Wahrnehmung zu reflektieren.
Damaris Stein
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