Wie geht man als Lehrperson damit um, dass die Hälfte der Klasse die zu unterrichtende Fremdsprache bereits kennt, weil sie Herkunftssprechende (heritage speakers) sind? Wie wird man den Ansprüchen der anderen Hälfte der Klasse gerecht, welche die Fremdsprache von Grund aus neu erlernt?
Das Slavische Seminar führte am 13. April 2018 zu diesen Fragen ein Scientific Retreat durch. Prof. Grit Mehlhorn von der Universität Leipzig leitete den Workshop zum Thema „Heterogenität im Unterricht von slavischen Sprachen“. Sie vermittelte Hintergrundwissen zu den Herkunftssprechenden als Lernenden, welche die Zielsprache (z. B. Russisch) bereits als Familiensprache sprechen, während die Umgebungssprache eine andere, „dominante“ Sprache (hier Deutsch) ist. Zudem machte Prof. Mehlhorn die Teilnehmenden mit einer Reihe von Differenzierungsmethoden für den Unterricht bekannt. Die elf Teilnehmenden vertraten die Sprachen Russisch (Sprachpraxis, Linguistik, Grammatik, Geschäftsrussisch, Fachdidaktik, Gymnasium), Polnisch und Tschechisch.
Die Teilnehmenden stellten fest, dass die Gruppe der Herkunftssprechenden in sich äußert heterogen ist, da die Lernenden die Zielsprache auf unterschiedlichen Niveaus beherrschen: Das Spektrum reicht von ausschließlich mündlichen Kompetenzen über fließende Sprachbeherrschung bei gleichzeitiger Unkenntnis von Stilunterschieden bis zu Code-Switching und Defiziten in der deutschen Sprache. In der Diskussion wurden Vorschläge gemacht, wie Lehrpersonen die Herkunftssprechenden auf diese individuell unterschiedlichen Kompetenzniveaus aufmerksam machen können, ohne ihr Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Dieses Feingefühl ist wichtig, weil an die Herkunftssprechenden besondere Normerwartungen gestellt werden, die mit ihrer Identität verknüpft sind.
Wie können Lehrpersonen dieser doppelten Heterogenität nun begegnen: einerseits der Heterogenität durch die Unterteilung in Herkunftssprechende und Fremdsprachenlernende, andererseits derjenigen von unterschiedlichen Kompetenzen innerhalb jeder dieser beiden Gruppen? Die Teilnehmenden erarbeiteten im Workshop verschiedene Differenzierungsmethoden, z.B. das Angebot von spezifischen Lenkungshilfen für jede Gruppe.
Aufgabenstellungen können so modifiziert werden, dass beispielsweise in Lückentexten die eine Gruppe in Klammern zwei Wortformen in der korrekten Form vorfindet und nur zwischen diesen beiden die richtige auswählen muss. Eine andere Gruppe muss nicht nur zwischen zwei Wortformen wählen, sondern diese Wörter zuerst in die korrekte Form setzen. Eine dritte Gruppe muss zuerst das passende Wort für den Lückentext finden, bevor sie von zwei Varianten die richtige wählt und diese dann in die korrekte Form setzt.
Besonders begeistert waren die Teilnehmenden von den sogenannten Tandembögen, einer Übungsmethode, um mit Heterogenität durch Herkunftssprechende im Unterricht umzugehen. Bei den Tandembögen arbeiten zwei Lernende zusammen. Die eine Person (A) erhält die linke Seite eines Aufgabenbogens, die andere Person (B) die rechte. Auf der linken Seite der Person A steht jeweils zuerst eine Aufgabe ohne Lösung, dann eine neue Aufgabe mit Lösung, dann wieder eine ohne Lösung und so weiter. Auf der rechten Seite der Person B steht jeweils zuerst eine Aufgabe mit Lösung, dann eine ohne, dann eine mit und so weiter. Der Bogen der Person A enthält also einerseits Aufgaben, die sie lösen muss, andererseits die Antworten auf die Aufgaben, welche die Person B lösen muss. Nun lesen sich die beiden Lernenden der Reihe nach Aufgaben vor. Die eine Person kann die Antworten der anderen Person auf ihrem Bogen überprüfen. Die Lernenden arbeiten in ihrem eigenen Tempo. Ein Tandembogen kann Aufgaben für Fremdsprachenlernende wie auch für Herkunftssprechende enthalten. Auf diese Weise wird das Potential beider Lerntypen genutzt.
Im Workshop machten sich die Teilnehmenden zudem mit Lehrwerken bekannt, welche Differenzierungsangebote für unterschiedliche Lernende enthalten. Ein neu aufgelegtes Lehrwerk des Russischen (Dialog) enthält beispielsweise unterschiedliche Aufgaben für leistungsschwächere Lernende, leistungsstärkere Lernende wie auch für Herkunftssprechende und ist somit eine große Entlastung für die Lehrpersonen heterogener Klassen mit Herkunftssprechenden. Zudem wurde der Einsatz von Herkunftssprechenden als Expertenpersonen im Unterricht diskutiert sowie die Erstellung von individuellen Fehlerprotokollen besprochen. Letztere sind insbesondere für Herkunftssprechende, welche oft orthographische Fehler machen, die Fremdsprachenlernenden nicht passieren, ein wirkungsvolles Entwicklungsinstrument.
Die anregenden Inputs und zahlreichen Differenzierungsvorschläge sowie die angenehme, konstruktive Atmosphäre und der rege Austausch zwischen den Teilnehmenden machten diesen Workshop zu einem vollen Erfolg. Die neuen Erkenntnisse werden in die Unterrichtspraxis, in die Lehramtsausbildung für den Master of Education Russisch sowie in die Forschungsarbeiten zum Thema Herkunftssprechende am Slavischen Seminar einfließen.